(Es gilt das gesprochene Wort)

Sehr geehrter Herr Grossratspräsident und Gemeindepräsident
Liebe Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde Sirnach
Geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger
Sehr verehrte Gäste

Es freut mich, dass ich heute hier in Sirnach die 1.August-Ansprache halten darf. Sirnach ist ein wichtiges Zentrum im Hinterthurgau bzw. im „südlichen Thurgau“, das immer wieder positive Schlagzeilen macht und im ganzen Kanton wahrgenommen wird. Kann sich neben dem grossen Nachbar Wil sehr gut behaupten.
Kein Zufall deshalb, dass ich als Regierungsrat überdurchschnittlich viel in Sirnach bin, neben politischen Anlässen im Dreitannensaal oder im „Engel“ besuche ich auch viele kulturelle Anlässe von hoher Qualität: Operette (in diesem Jahrhundert noch keine Aufführung verpasst), Dreikönigskonzert, Fasnachtsumzug mit der Muschelfee. In bester Erinnerung: Feier für Grossrats-Präsident Kurt Baumann im Mai; eindrücklich, wie viele Leute teilnahmen, eindrücklich, wie die Sirnacher Kinder das Thurgauer Lied begeistert und auswendig gesungen haben! Kompliment an die Schule Sirnach, eine tolle Leistung. Es ist wirklich schön, dass es auch Thurgauer Schulgemeinden gibt, die mit harmonischen Tönen Schlagzeilen machen!

Das Thurgauer Lied ist gelebte Volkskultur und steht für das Gemeinsame, für das, was uns verbindet, für die Freude an unserer Heimat und alles, was diese Heimat ausmacht. Gelebte Volkskultur ist auch das grosse Fête des Vignerons (Fest der Winzer) in Vevey, das nur alle 20 Jahre stattfindet und diesen Sommer wieder über die Bühne geht, mit 6500 Akteuren und täglich 20’000 Gästen. Seit über 200 Jahren wird so die Arbeit in den weiten Rebbergen des Lavaux über dem Genfersee gewürdigt und gefeiert. Mit dabei sind dieses Jahre auch alle Kantone der Schweiz, auch der Thurgau. Am 5. August fährt ein langer Sonderzug vom Thurgau nach Vevey, wo wir unsern Kanton in einem Umzug und verschiedenen Ständen präsentieren dürfen, incl. dem Wein, der den Namen unseres Kantons trägt, dem „Müller Thurgau“. Der Sinn der Kantonstage ist es, die Verbundenheit innerhalb der Schweiz zu stärken. Der Präsident der organisierenden Winzerbruderschaft von Vevey hat dies in einem Interview so formuliert: „Unser Anspruch ist, die Menschen wieder näher zusammenzubringen und auch der Region, dem Kanton und der ganzen Schweiz etwas Selbstvertrauen einzuhauchen.“

Dieser Satz trifft auch den Kern der heutigen Bundesfeier. „Die Menschen wieder näher zusammenzubringen“, das muss das Ziel sein. Die Bundesfeier ist die Gelegenheit, sich auf das Gemeinsame, das Einigende zu besinnen. Es ist nicht nur die Gelegenheit, es ist meiner Ansicht nach sogar eine Notwendigkeit, wenn man den heutigen lauten und schnelllebigen Politikbetrieb beobachtet. Wie das Fête des Vignerons muss auch die Schweiz ihre Traditionen und Wurzeln pflegen, muss auch die Schweiz  dem Zusammenhalt Sorge tragen, dem Zusammenhalt zwischen den Kantonen und Regionen, dem Zusammenhalt zwischen jung und alt, zwischen Mann und Frau, zwischen links, Mitte und rechts. Natürlich ist es wichtig und richtig, wenn die politischen Positionen klar und deutlich vorgetragen werden. Natürlich ist es wichtig und richtig, wenn in der Politik diskutiert, gerungen und gestritten wird. Aber noch wichtiger ist, dass es nicht einfach bei den Schlagworten bleibt, sondern dass in den Parlamenten auch Lösungen erarbeitet werden, echte Kompromisse, die am Schluss gemeinsam getragen werden und unser Land weiterbringen.

Zum Beispiel in der Altersvorsorge. Heute werden die Schweizerinnen und Schweizer durchschnittlich elf Jahre älter als 1960, und der Anteil der Pensionierten gegenüber den Erwerbstätigen hat sich stark erhöht. Die Gesetze über die AHV und die Pensionskassen müssen deshalb dringend reformiert werden, um die Renten für die heutigen und zukünftigen Rentnerinnen und Rentner zu garantieren. Bei der AHV ist die langfristige Finanzierung zu sichern. Dazu gehört auch eine schrittweise Erhöhung und Flexibilisierung des Rentenalters, mit Übergangslösungen für jene Personen, die bald vor der Pensionierung stehen. Ergänzend wichtig ist die Förderung der freiwilligen Teilzeit-Weiterarbeit über das Pensionsalter hinaus. Damit kann dem Fachkräftemangel entgegengewirkt werden, womit auch der Bedarf nach ausländischen Fachkräften sinkt.

Es darf nicht sein, dass die Politik die Reform der Altersvorsorge weiterhin verschleppt, nur weil das Thema komplex ist und teilweise auch unpopulär. Das Gleiche gilt für das Gesundheitswesen, das zwar hervorragend ist, jedoch immer teurer wird, so dass die Kosten langfristig kaum mehr tragbar sind. So gibt der Kanton Thurgau heute bereits die Hälfte seines ordentlichen Steuerertrags für den Gesundheitsbereich aus: für die Spitäler, für die Prämienverbilligung und für die Alterspflege. Es muss deshalb alles versucht werden, das Kostenwachstum zu bremsen und gleichzeitig ein
gutes und qualitätsvolles Angebot für alle zu sichern. Auch das ist eine grosse und herausfordernde Arbeit, die wenig kurzfristige Lorbeeren verspricht. Trotzdem muss sich die Politik diesen Fragen stellen, denn wenn heute keine Lösungen gefunden werden, so wird irgendwann das ganze gute Gesundheits-System ins Wanken geraten.

Eines ist sicher: Nur mit Schlagworten allein können Herausforderungen wie die Sicherung der Altersvorsorge und des Gesundheitswesens nicht gelöst werden. Es braucht Politikerinnen und Politiker, die sich in die Themen vertiefen, Lösungsansätze erarbeiten und im Dialog mit der Bevölkerung und den Interessengruppen zur Reife bringen. In der Ukraine wurde kürzlich eine Partei an die Macht gewählt, die „Diener des Volkes“ heisst. Ein schöner Name, und es ist zu hoffen, dass der Name wirklich zum Programm wird. Auch bei uns sind Politikerinnen und Politiker „Diener des Volkes“, und dazu gehört eben vor allem auch die Aufgabe, sich ernsthaft um die grossen drängenden Fragen zu kümmern.

Sich mit einem Thema vertieft zu befassen, ist das eine, sich dabei von einer klaren Grundhaltung leiten zu lassen, ist das andere. Die Schweiz ist in ihrer einzigartigen Geschichte gut damit gefahren, keine sturen Ideologien zu verfolgen, sondern massgeschneiderte, pragmatische Lösungen für anstehende Aufgaben zu finden, die den verschiedenen Interessen und Notwendigkeiten Rechnung tragen. Wichtig war immer, dass nicht alles Heil vom Staat erwartet wird, sondern dass der Staat seinen Bürgerinnen und Bürgern und auch den Unternehmen den nötigen Freiraum gibt, sich nach ihren Bedürfnissen zu entwickeln. In einem solchen Umfeld nehmen die Bürgerinnen und Bürger ihre Eigenverantwortung wahr und werden auch in freiwilliger Solidarität tätig. Denn Solidarität darf in einer freien Gesellschaft nie zur alleinigen Aufgabe des Staats werden.

Eine wesentliche Komponente der Schweizer Politik ist auch, dass sie immer von Augenmass geprägt war, nicht zuletzt auch sichergestellt durch Entscheide des Schweizer Volks an der Urne. Dies bedeutet: Evolution, also ständige Weiterentwicklung, statt radikaler Revolution. Das mündet oft in eine Politik der kleinen Schritte, was die Schweiz jedoch weitergebracht hat als andere Staaten, die nach Regierungswechseln oft grosse Reformen anfangen, die dann von der nächsten Regierung wieder rückgängig gemacht werden. Das gilt auch für die Klimapolitik, wobei festgehalten werden muss, dass die Schweiz bereits heute nicht verstecken muss. Dass weitere Massnahmen nötig sind, um die international vereinbarten Ziele zu erreichen, ist nicht zu bestreiten. Es liegt schliesslich am eidgenössischen Parlament, festzulegen, wie stark der Fokus auf Massnahmen im Inland gelegt werden soll und wo es sinnvoller ist, sich energisch für griffige internationale Massnahmen einzusetzen. Denn der Klimawandel ist eine weltweite Herausforderung und kann letztlich nur global gebremst und bewältigt werden. Am Schluss wird auch hier das Volk das letzte Wort haben und entscheiden, ob in der Klimapolitik die bewährte sachbezogene Pragmatik und das nötige Augenmass bewahrt worden sind.

Zur klaren Grundhaltung gehören für mich weiter auch die Bewahrung der Grundpfeiler der Schweizer Politik: die Selbstbestimmung, der Föderalismus, die Neutralität und die direkte Demokratie. Sie sind die Grundlage für den erfolgreichen Kleinstaat Schweiz, auf den wir zu Recht stolz sind. Innenpolitisch müssen wir darauf achten, dass der Föderalismus nicht weiter durch den Zentralismus ausgehöhlt wird und die Kantone, Städte und Gemeinden ihre Kompetenzen behalten. Alles, was nicht zwingend auf Bundesebene geregelt werden muss, soll dort auch nicht geregelt werden. Denn je näher eine staatliche Organisation bei den Bürgerinnen und Bürgern ist, desto bürgerfreundlicher fallen auch deren Entscheide aus. Aussenpolitisch müssen wir in Bezug auf Einschränkungen von Selbstbestimmung, Neutralität und direkter Demokratie wachsam sein. Alle internationalen Verträge, Vereinbarungen und Chartas sind unter diesen Gesichtspunkten immer sorgfältig zu prüfen. Sicher sind von Fall zu Fall Interessenabwägungen vorzunehmen, insbesondere bezüglich der Interessen unserer Wirtschaft und unserer Arbeitsplätze. Doch den Kerngehalt von Selbstbestimmung, Neutralität, direkter Demokratie und Föderalismus darf die Schweiz niemals preisgeben, denn es ist ihr Fundament. Unter diesen Gesichtspunkten beurteile ich das vorliegende Rahmenabkommen mit der EU negativ. Es braucht entscheidende Nachbesserungen und eine EU, die der Schweiz kooperativer und freundschaftlicher entgegentritt als bisher. Es ist auch kein Trost, dass die EU gegenüber den Briten noch viel unfreundlicher auftritt. Ich hoffe, dass der Bundesrat klug, hartnäckig und ausdauernd verhandelt und kämpft. Nur so kann ein Vertrag entstehen, dem das Schweizer Volk am Schluss auch zustimmt.

Wenn ich heute einige Herausforderungen der aktuellen Schweizer Politik angesprochen habe, soll uns das nicht daran hindern, den heutigen Geburtstag der Schweiz gebührend zu feiern. Wir dürfen stolz sein auf unser Land und auch auf den politischen Bürger-Dialog, den wir führen und der in keinem andern Staat der Welt so gut funktioniert und entwickelt ist. Die Schweiz wird für ihre Institutionen, ihre demokratischen Prinzipien und ihren Erfolg vielfach bewundert. Das habe ich auch letzte Woche erfahren, als ich mit einem Freund eine Bergwanderung im Bündnerland gemacht habe. Als wir eine Rast machten und uns an der prachtvollen Bergwelt und Natur erfreuten, hat uns ein freundlicher Deutscher, mit dem wir bereits auf der Passhöhe einige Worte gewechselt hatten, mit einem Schmunzeln zugerufen: „Die Schweizer blicken stolz auf ihr schönes Land.“ Ich muss Ihnen sagen, er hat damit den Nagel auf den Kopf getroffen. So ist es: „Wir blicken stolz – und dankbar – auf unser schönes Land.“ Besonders heute. Sorgen wir gemeinsam dafür, dass es so bleibt!

Ich wünsche Ihnen einen schönen 1.August und alles Gute, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Sirnach, 1.August 2019, Jakob Stark, Regierungspräsident

 

Bundesfeier-Ansprache Sirnach (PDF)