Meine Ansprache zur Bundesfeier im Innenhof der Klinik Schloss Mammern.

 

Sehr geehrte Frau Gemeindepräsidentin,

Liebe Einwohnerinnen und Einwohner der Gemeinde Mammern

Liebe Patientinnen und Patienten

Geschätzte Mitbürgerinnen und Mitbürger

Sehr geehrte Gäste

 

Es freut mich sehr, dass ich heute bei Ihnen sein darf und die Bundesfeier-Ansprache halten darf. Beim dritten Anlauf hat es endlich geklappt. Am 1.August 2020 kam Covid dazwischen – und ich war sehr enttäuscht. Am 1.August 2021 kam wieder Covid dazwischen – doch damals war ich froh über die Absage, denn ich hatte mir einige Tage vorher den Fuss gebrochen und hätte gar nicht kommen können! Eine peinliche Absage blieb mir dadurch erspart. Heute hat es nun im 3.Anlauf geklappt – ich habe bei unsern Wanderferien letzte Woche extra gut aufgepasst, damit mir nicht nochmals ein solch verhängnisvoller Misstritt passiert.

 

Wenn ich die Gemeinde Mammern betrachte, kommt mir der bekannte Satz des Dichters Jeremias Gotthelf in den Sinn:

„Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland“.

Das heisst für mich: Zuhause, in der eigenen Gemeinde, mitwirken, engagieren, Verantwortung übernehmen. Als eine der kleinsten Gemeinden im Kanton macht Mammern vor, wie das geht, auch wenn die Herausforderungen der öffentlichen Hand gross sind und immer komplexer werden. Viele Gemeinden geben deshalb ihre Eigenständigkeit auf und schliessen sich zu teils sehr grossen neuen Gemeinden zusammen. Der Preis ist in der Regel eine starke Abnahme der Mitwirkung der Bevölkerung, die Stimmbeteiligung an den Gemeindeversammlungen sinkt dramatisch. Mag sein, dass die Dienstleistungen dadurch besser erbracht werden können. Sicher aber ist, dass das Mitdenken und Mitmachen der Bürgerinnen und Bürgerinnen abnimmt und Identität verloren geht. Es besteht die Gefahr, dass das Bewusstsein «Die Gemeinde sind wir» abnimmt und sich wandelt in «Die Gemeinde: das ist der Gemeinderat und die Verwaltung.» Eine für unsere Demokratie gefährliche Entfremdung droht, und an Gemeindeversammlungen gehen viele nur noch, wenn grosse und spektakuläre Entscheidungen anstehen.

 

«Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Das hat ja auch viel mit Eigenverantwortung und Eigeninitiative zu tun – und nicht alles vom Staat oder von der Gemeinde zu fordern. Zwei Beispiele in der Gemeinde Mammern sind mir besonders aufgefallen. Zum einen der Verein Mammern Classics, der mit Erfolg grosse Publikumsanlässe organisiert, zuletzt im Jahre 2019 das Musical «RunggleBuur», das ich zusammen mit meiner Frau besuchte und das uns begeistert hat. Dass das Thurgauer Kulturamt damals noch ein Haar in der Suppe gefunden hat, hat nicht gegen das Musical gesprochen, schon eher gegen die Sensibilität des Kulturamts. Aber lassen wir diese Fussnote der Geschichte.

Das andere leuchtende Beispiel ist die Klinik Schloss Mammern. Dass die Bundesfeier hier im Innenhof der Klinik stattfindet, ist für mich ein toller Ausdruck der Verbundenheit der Klinik mit der Gemeinde, auch sie übernimmt Verantwortung und engagiert sich. «Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland.» Die Klinik Schloss Mammern ist ein Paradebeispiel dafür, und sie leuchtet nicht nur im Vaterland, sondern weit darüber hinaus. Dafür möchte ich der Leitung mit den Chefärztinnen Dr. Annemarie Fleisch Marx und Dr. Ruth Fleisch-Silvestri sowie Direktor Beat Oehrli die gebührende Anerkennung und einen herzlichen Dank aussprechen.

 

«Im Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterland». Diesen Grundsatz möchte ich nicht auf die Gemeinde beschränken. Er gilt auch auf Kantons- und Bundesebene und darüber hinaus. Eigenverantwortliches Handeln ist gefragt – und wird auch gelebt: Zum Beispiel durch die Tausenden von Schweizerinnen und Schweizer, die spontan Wohnraum für Ukraine-Flüchtlinge zur Verfügung gestellt haben. Es ist wichtig und gehört zur DNA der Schweiz, dass die Bürgerinnen und Bürger selbst aktiv zu werden und nicht einfach nach dem Staat rufen. Natürlich, nicht alle Probleme können so gemeistert werden, aber jede und jeder kann ihren/seinen Beitrag leisten. Beispiele: Wassermangel: Wasser sparen. Strommangel: Strom sparen. Gasmangel: Gas sparen. Wir sind in einer Zeit, wo es nötig werden könnte, dass sich alle etwas einschränken müssen, auch bei der Bekämpfung des Klimawandels. Da braucht es Eigenverantwortung – und die grosse und schwierige Aufgabe der Politik ist es, die richtigen Gesetze zu machen, welche die Leute motivieren, Eigenverantwortung zu übernehmen. Die Bürgerinnen und Bürger müssen wissen, dass sich Eigenverantwortung lohnt – für sie selbst und für alle andern, für unser Land!

 

Haben nicht auch die alten Eidgenossen, als sie 1291 auf dem Rütli ihren Eid geschworen haben, nichts anderes als ihre Eigenverantwortung für ihre Familien und ihre Talschaften wahrgenommen? Und erkannt, dass Eigenverantwortung – wie heute – nicht einfach Eigennutz für den Einzelnen bedeutet, sondern zu gemeinsamer Verantwortung führt und zu Solidarität? Der Dichter Friedrich Schiller hat den Eid in seinem grossen Drama «Wilhelm Tell» so schön niedergeschrieben, dass ich ihn immer wieder gerne zitiere:

«Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr, wir wollen frei sein, wie die Väter waren, eher den Tod, als in der Knechtschaft leben. Wir wollen trauen auf den höchsten Gott, und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.»

 

Der Text hat nichts von seiner Kraft eingebüsst, aber er ist über 200 Jahre alt, also lange vor der Gleichstellung von Mann und Frau entstanden, weshalb er nur von Brüdern und Vätern spricht; heute sind damit ganz selbstverständlich auch die Schwestern und Mütter mitgemeint. Das ist wichtig, denn nur so begreifen wir so richtig den Kern des Schwurs der Ur-Eidgenosssen, den ich etwa so zusammenfassen würde:

Wenn Not und Gefahr droht, dann wollen die Eidgenossen ein «einzig Volk» sein, das heisst: ein Volk, das niemanden ausschliesst, zu dem alle gehören, das alle braucht und zu diesem Zweck das Einigende über das Trennende setzt. Durch diese solidarische Kraft kann das Volk, kann die Eidgenossenschaft bestehen in höchster Not und Gefahr. Und durch diese solidarische Kraft sind die Eidgenossen auch zu allem bereit: «Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben», schwören sie. Und legen damit den ersten ganz wichtigen Grundstein für unsere heutige Schweiz. Ein Fundament, das unser Land heute noch trägt. Aber wären wir, wäre das Schweizer Volk heute noch bereit, diesen Schwur zu schwören: «Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben»? — Die Frage stellt sich uns zum Glück nicht konkret?

 

Aber in der Ukraine schon! Dieses Land ist vor einigen Monaten von Russland militärisch angegriffen worden, und da hat sich die Frage ganz konkret und in aller Härte gestellt: «Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?» Sie kennen die Antwort des ukrainischen Volks: Sie lautet: JAmit allen Konsequenzen: Zerstörung, Flucht, schwere Verletzungen, Tod! Ich habe grössten Respekt vor dieser mutigen Haltung. Es freut mich, dass sich die Ukraine gegen die Knechtschaft durch Russland wehrt. Und mit mir freuen sich ganz viele Schweizerinnen und Schweizer, unterstützen die Hilfeleistungen für die Ukraine mit weit über 100 Millionen Franken, öffnen ihre Häuser für Tausende von Ukraine-Flüchtlingen. Weshalb diese Solidarität? Ich glaube, dass das mit der Geschichte der Schweiz zu tun hat, mit der DNA der Eidgenossenschaft, sich die eigene Unabhängigkeit gegen scheinbar übermächtige Gegner zu erkämpfen, auf der Grundlage eines Schwurs, in dem es heisst: «Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben».

 

Der Unterschied ist nur: die Eidgenossenschaft kämpfte die entscheidenden Schlachten vor 500 bis 700 Jahren, die Ukraine heute, wo Waffen und Technologie eine viel grössere Rolle spielen. Das spielt den Grossmächten in die Hände, weil ihnen viel mehr Mittel zur Verfügung stehen. Mittlere und kleinere Staaten sind dadurch grundsätzlich im Nachteil, in der Ukraine zeigt sich das klar. Die Waffenunterstützung durch den Westen ist sehr wichtig.

Aber auch für die Schweiz stellt diese Entwicklung eine grosse Herausforderung dar. Ihre Neutralität wird auf die Probe gestellt. Es gilt, wichtige Fragen zu beantworten, wie zum Beispiel: Wie weit ist Neutralität zu vereinbaren mit Sanktionen gegen andere Staaten? Oder: Wie kann die Schweiz ihre militärische Sicherheit weiterhin allein sicherstellen? Ich begrüsse es sehr, dass eine breite Neutralitäts-Diskussion eingesetzt hat. Sie ist wichtig, aus drei Gründen:

  1. Die Schweiz muss auch in Zukunft klar neutral bleiben, das ist das Wichtigste.
  2. Was Neutralität konkret bedeutet, muss bei veränderter Lage immer wieder neu diskutiert und festgelegt Das ist jetzt der Fall und dringend nötig!
  3. Für eine erfolgreiche und glaubwürdige Neutralität braucht es eine vorausschauende und kluge Kommunikation des Bundesrats gegenüber der Öffentlichkeit und insbesondere gegenüber dem Ausland. Das war leider beim Ausbruch des Ukraine-Kriegs nicht der Fall bzw. ganz schlecht! Hier besteht dringender Handlungsbedarf.

 

Ich möchte nochmals auf den Schwur der Eidgenossen zurückkommen und fragen: Könnte er auch für die heutige Schweiz unmittelbar aktuell sein? Ich meine grundsätzlich JA. Zeitgemäss übersetzt würde ich den Inhalt des Schwurs so wiedergeben: Gemeinsam Verantwortung übernehmen in einer Zeit der Bedrohung, zusammenstehen als ein «einzig Volk» in Not und Gefahr.

 

Sind wir, ist die Schweiz denn in Not und Gefahr? Nein und Ja. Nein, weil es keine allgemeine Not gibt. Es geht uns, es geht der Schweiz immer noch sehr gut, im allgemeinen und besonders im Vergleich mit dem Ausland. Ja, weil uns, weil der Schweiz grosse Gefahren drohen, viel dringender als vor fünf oder zehn Jahren, zum Beispiel: Pandemien, ausgelöst durch ein Virus wie Covid-19, Strommangel, Gasmangel, Auswirkungen des Klimawandels (Trockenheit, Wassermangel, Starkniederschläge), Positionierung der Schweiz als neutrales Land in einer polarisierten und zunehmend gewaltbereiten Welt.

 

Ich bin überzeugt, dass es auf alle diese Gefahren gute Antworten gibt, aber wir müssen die Themen anpacken. Wir müssen rasch Konzepte erarbeiten, beschliessen und umsetzen, mit denen die Schweiz wirkungsvoll auf die Gefahren reagieren und die Herausforderungen meistern kann.

 

Am Beispiel der Stromversorgung, mit der ich mich als Mitglied der Kommission für Umwelt, Raumplanung und Energie (UREK) eng befasse, möchte ich Ihnen kurz aufzeigen, was ich darunter verstehe.

 

Zunächst gilt es zwischen den kurz- und langfristigen Herausforderungen zu unterscheiden. Kurzfristig ist der Bundesrat als operatives Führungsorgan gefragt, für die langfristigen Massnahmen ist das Parlament in der Verantwortung, das jetzt die nötigen Gesetze beschliessen muss.

 

Um die kurzfristig, bereits nächsten Winter drohende Strom-Mangellage zu verhindern, braucht es Sofortmassnahmen wie das bessere Füllen der vielen Stauseen in den Bergen mit einer Wasser-Reservehaltung bis in den Frühling sowie ein allgemeines Strom-Sparen. Beides plant der Bundesrat: die verstärkte Reservehaltung von Wasser in den Stauseen hat er bereits beschlossen. Für ein gezieltes Stromsparen will er die Bevölkerung in den nächsten Wochen aufrufen. Ich glaube, dass damit die durchgehende Stromversorgung für den nächsten Winter gesichert werden kann – allerdings mit einer Unsicherheit: einem möglichen vollständigen Gaslieferstopp aus Russland infolge des Ukraine-Kriegs. Das würde die Stromknappheit in ganz Westeuropa, also auch bei uns, nochmals verschärfen. Diese Gefahr können wir nicht zum Verschwinden bringen, wir müssen damit leben. Tritt sie ein, so müssen wir vermutlich mit einer Strom- und Gas-Mangellage in der Schweiz rechnen, wofür der Bundesrat entsprechende Notfallkonzepte mit Kontingentierungs- und Rationierungsmassnahmen beschlossen hat, die dann in Kraft treten würden. Das wäre unangenehm für die Bevölkerung und nachteilig für die Wirtschaft, aber die Schweiz würde das aushalten.

 

Ganz wichtig ist jedoch, dass diese Mangellage – kriegsbedingt – eine einmalige Situation ist und bleiben wird! Die Politik muss deshalb dringend tätig werden, um zukünftige Strommangellagen im Winter zu verhindern – oder anders gesagt: um die langfristige Stromversorgung in der Schweiz zu sichern. Dazu braucht es einen massiven Ausbau der erneuerbaren Stromproduktion in der Schweiz. Ein entsprechendes Gesetz liegt auf dem Tisch. Es ist nun wichtig, dass sich National- und Ständerat angesichts der drohenden Gefahr und Not zu einem grossen Kompromiss durchringen, der von allen Parteien mitgetragen wird und ohne Verzug, also auch ohne Referendumsabstimmung, in Kraft gesetzt und vollzogen werden kann.

 

Ob dies gelingt, ist leider nicht so klar! Weil nach wie vor die unterschiedlichen Ansichten und Interessen im Vordergrund stehen! Weil die Einigkeit fehlt! Doch genau darauf wurde im Eid von 1291 am meisten Wert gelegt, ich zitiere (angepasst) nochmals den ersten Satz: «Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern (und Schwestern), in keiner Not uns trennen und Gefahr». Klar, man soll und darf auch unter Schwestern und Brüdern diskutieren, streiten und unterschiedlicher Meinung sein. Die Frage ist, wie weit man das treibt. Ob alle auf ihren Positionen verharren, weil sie sich vielleicht sogar darüber definieren und gar nicht mehr anders können? Oder ob es irgendwann genug ist und Kompromisse gefunden werden, die von allen mitgetragen werden? Weil die Einsicht wächst, dass die Gefahren des Mangels an elektrischer Energie je länger je grösser und bedrohlicher werden und langfristig sogar Not droht?

 

Ich bin der festen Ansicht, dass wir heute nicht nur in der Energiepolitik an einem Punkt angekommen sind, an dem wir das «einzig Volk von Brüdern (und Schwestern)» ernster nehmen sollten. Wir müssen vermehrt zusammenstehen angesichts drohender Gefahren und Not. Wir müssen Kompromisse suchen, finden, dahinterstehen und umsetzen. Unspektakulär – kaum Schlagzeilen – aber wirkungsvoll!

 

Es geht darum, das Gemeinsame über das Trennende zu stellen. Wie es auf dem Rütli beschworen worden ist. Die Eidgenossen haben es uns vorgemacht, haben Erfolge und Niederlagen erlebt, aber letztlich ihre Ziele erreicht. Ihr Gemeinsinn soll unser Vorbild sein für die Bewältigung der grossen Herausforderungen des 21.Jahrhunderts.

 

Ich komme zum Schluss:

 

Es ist wichtig, nicht nur im Heute zu leben und dadurch die Zukunft zu verschlafen.

Es ist aber auch wichtig, nicht nur über die Zukunft nachzudenken, sondern auch hier und heute zu leben.

Deshalb dürfen wir heute am Geburtstag der Schweiz auch mit Freude feiern: die lange Geschichte unseres Landes, unsere direkte Demokratie, unsere Sicherheit, unsere Freiheit, den wirtschaftlichen Erfolg unseres Land, unsern Wohlstand. Darauf dürfen wir gewiss stolz sein – am wichtigsten aber bleiben: Demut und Dankbarkeit!

 

(Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.)

 

Jakob Stark, Buhwil, Ständerat des Kantons Thurgau, SVP