Neues Sozialwerk passt nicht ins System und verschärft den Fachkräftemangel

Die grosse Herausforderung im Arbeitsmarkt besteht für die Schweiz heute im Fachkräftemangel. Gemäss einer Studie der UBS (Juli 2019) wären für die nächsten zehn Jahre für einen ausgeglichenen Arbeitsmarkt jährlich 30’000 zusätzliche ausländische Arbeitskräfte nötig, wenn keine Gegenmassnahmen im Inland ergriffen werden (Fachkräfteinitiative). Wichtigste Gegenmassnahme ist, neben der Erhöhung der Erwerbsquote der Frauen, die Flexibilisierung des Rentenalters. Diesem Vorhaben, das der Bundesrat in seiner Botschaft zur Stabilisierung der AHV (AHV 21, 19.050, 28. 8. 2019) détailliert dargelegt hat, steht das Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose (ÜLG) vom 19. Juni 2020 diametral entgegen. Es verstärkt für Arbeitnehmer und für Arbeitgeber die Anreize, die Anstellung ab dem 58. Altersjahr vorzeitig zu beenden. Der Fachkräftemangel wird dadurch weiter verschärft. Unter dem Blickwinkel der Fachkräfteinitiative wirkt das ÜLG verantwortungslos und demotivierend. 

Die Überbrückungsleistung passt nicht ins System; sie ist weder Teil der Arbeitslosenversicherung (AVIG) noch der AHV. Sie ist ein neues Sozialwerk, dessen Kosten anfänglich bescheiden wirken mögen, mittel- und langfristig aber mehrere hundert Millionen Franken pro Jahr betragen werden. Denn trotz anderslautenden Studienergebnissen des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) wird die Überbrückungsleistung zu einem Anstieg der Personen führen, welche davon Gebrauch machen und sich vor dem Pensionierungsalter aus dem Erwerbsleben zurückziehen. Jedenfalls zeigen dies die Erfahrungen aus Deutschland, wo eine ähnliche Regelung für Personen ab 58 Jahren (Arbeitslosengeld ohne Verpflichtung für Arbeitsbemühungen oder Weiterbildung) mit der Hartz IV-Reform wieder abgeschafft wurde. Statt ein neues Sozialwerk zu schaffen, sind die bestehenden Sozialversicherungen finanziell zu sichern. Bei der AHV ist das Umlageergebnis negativ, die Jahresergebnisse sind nur dank den Kapitalerträgen noch einige Jahre ausgeglichen, und das Vermögen wird ohne Reformen bis 2030 um 3.6 Mrd. Fr. abnehmen. Die IV ist mit 10.3 Mrd. Fr. verschuldet, und diese wird auch langfristig nicht zu tilgen sein. 

Gefragt ist also nicht ein neues Sozialwerk mit negativer Wirkung auf den Arbeitsmarkt, sondern griffige Massnahmen für ältere Beschäftigte, um diese im Arbeitsprozess zu halten. Dabei ist auf drei Ebenen anzusetzen:

Im AVIG ist den Bedürfnissen der ausgesteuerten Personen, die über 60 Jahre alt sind, verstärkt Rechnung zu tragen. Sie sollen Zugang zu allen Angeboten haben, die auf eine erneute Arbeitsaufnahme ausgerichtet sind. Dabei sind ihnen in Zusammenarbeit mit Unternehmen insbesondere auch langfristige Teilzeitstellen zu vermitteln.

Bei der AHV steht die Flexibilisierung des Rentenbezugs im Vordergrund. Der Bundesrat hat dies in seiner Botschaft zur AHV 21 vorgeschlagen, wobei er den Fokus legt auf die verbesserten Möglichkeiten und Anreize, (in Teilzeit) bis zum 70.Altersjahr weiter zu arbeiten. Die Flexibilisierung sollte jedoch auch genutzt werden, um ab dem 60.Altersjahr Teilzeitstellen zu ermöglichen und zu fördern. «Weiterarbeiten, aber in einem tieferen Rhythmus»: mit diesem Konzept würden die richtigen Anreize für Arbeitnehmer und Arbeitgeber geschaffen, das Arbeitsverhältnis bis zum Pensionierungsalter (oder darüber hinaus) beizubehalten. Konkret lautet der Vorschlag, ab dem 60.Lebensjahr einen Teilbezug der AHV (20 – 40%) zu ermöglichen, jedoch an den Bedingungen der Vollpensionierung nichts zu ändern (ab 62 bzw. 63 Jahren möglich).

Schliesslich sind auch im Regelwerk über die Pensionskasse (BVG) Anpassungen, parallel zur AHV-Reform 21, vorzunehmen. Zudem ist die Reduktion der hohen Lohnabzüge für Arbeitnehmende ab dem 55.Altersjahr dringend. Denn dieser Kostenfaktor fällt bei der Arbeitssuche negativ ins Gewicht. In der Vernehmlassungsbotschaft des Bundesrats zur BVG-Reform wird eine Reduktion von 18% auf 14% vorgeschlagen, an der unbedingt festzuhalten ist; eine weitergehende Senkung ist zu prüfen.

Ich fasse zusammen: Die Überbrückungsrente ist ein neues Sozialwerk, das nicht ins System passt. Die nötigen finanziellen Mittel von mehreren hundert Millionen Franken sind in die Sicherung und Reform der bestehenden Sozialversicherungen zu investieren, insbesondere in die AHV. Die Überbrückungsrente torpediert die Fachkräfteinitiative und führt zu einer Verschärfung des Arbeitskräftemangels. Die Massnahmen haben in AVIG, AHV und BVG anzusetzen, um den älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einen Verbleib im Arbeitsprozess zu ermöglichen.

 

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